DOI: 10.53176/202
Die Digitalisierung ist das Zukunftsthema, aber es fehlt die Nutzenargumentation. Es ist schon schwierig, die Digitalisierung zu erklären, aber noch komplizierter ist es, den Nutzen aufzuzeigen. Es stellt sich die einfache Frage: Warum soll ein Unternehmer sein erfolgreiches Geschäftsmodell aufgeben und sich in ein unbekanntes Abenteuer stürzen?
Strategieberater präsentieren die Vorteile der Digitalisierung anhand von Geschäftsmodellen bekannter Internetgiganten. Sie erklären die Serviceangebote von Airbnb, Uber oder Booking.com und beschreiben letztlich nur die Funktionsweise der Plattformen. Die Krönung der Argumentation ist der Blick auf die Marktkapitalisierung von Google, Amazon, Facebook und Apple (GAFA).
Technologieanbieter ignorieren die betriebswirtschaftlichen Aspekte der Digitalisierung und beginnen sofort mit der Demonstration ihrer Lösungen. Es folgt eine endlose Liste an Funktionen, Fachbegriffen und Abkürzungen, mit denen sie beeindrucken und gleichzeitig verwirren. Um die Angst vor der Komplexität zu nehmen, schlagen sie ein agiles Vorgehen vor: Erst einmal anfangen und dann orientieren!
Unternehmer zögern. Ihnen wird vorgeworfen, die Digitalisierung zu verkennen, denn viele von ihnen haben sich die notwendigen IT-Kenntnisse erst im Laufe ihres Lebens angeeignet und sind von den neuen Technologien überfordert. Doch es geht hierbei nicht um Web, App oder Cloud, sondern um die Zukunft des Unternehmens. Unternehmer handeln nach den Gesetzen der Marktwirtschaft und deshalb braucht es unschlagbare Argumente.
Dieser Artikel benennt den Auslöser, die drei Nutzenargumente sowie die notwendigen Bedingungen für die digitale Transformation. Er offenbart, dass die Parameter des Erfolges sich ändern und Unternehmen ohne digitale Strategie langfristig nicht überleben.
Der Zukunftsforscher Jeremy Rifkin beschreibt 1994 in seinem Buch „Das Ende der Arbeit“ [1] den Zwang der kapitalistischen Gesellschaft nach einer stetig wachsenden Produktivität. Erst später erkannte er die Auswirkung der Computerisierung oder Digitalisierung und nannte sie „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ [2]. Er trägt eindringlich vor, wie die rasante Entwicklung von digitaler Technologie die Produktivität steigert, die Grenzkosten senkt und dabei die Arbeit eliminiert.
Rifkin erklärt seine Theorien am Beispiel der
Landwirtschaft. Früher haben zahlreiche Landarbeiter ein Feld abgeerntet. Heute
erntet ein einzelner Landarbeiter (mit einem Mähdrescher) viele Felder ab. Die
Produktivität hat sich gesteigert und die Kosten sind gesunken. Der Bauer hat
verstanden, dass er mit seinem Kapital in eine Maschine investiert, welche dann
die Landarbeiter ersetzt. Außerdem zwang ihn der Wettbewerb zu dieser Maßnahme,
denn mit der alten arbeitsintensiven Landwirtschaft hätte er nicht überlebt.
Dieses Beispiel leuchtet ein. Die Reduktion der Landarbeit ist Teil der ersten industriellen Revolution und beschreibt den Übergang der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Digitalisierung stellt dagegen keine Erleichterung der körperlichen Arbeit dar, sondern eine systematische Eliminierung der manuellen und geistigen Tätigkeiten in den operativen Prozessen. Ein Gesetz der Digitalisierung lautet: Algorithmen ersetzen Mitarbeiter [3].
Digitalisierung bedeutet, dass
ein Prozess von Anfang bis Ende auf einer elektronischen Plattform umgesetzt
wird und ohne manuelle Tätigkeiten auskommt. Sofern der Prozess einen
Mitarbeiter erfordert, handelt es sich nicht um Digitalisierung, sondern um Rationalisierung.
Es gibt Geschäftsmodelle, die eine Ausnahme darstellen. In diesen Fällen
startet der Prozess auf der Plattform und mündet in einer physischen Auftragserfüllung.
Hierzu zählen die Herstellung und Lieferung von Waren oder die Erbringung von
Dienstleistungen.
Lassen Sie uns diese Aussage prüfen: Ein Bankmitarbeiter berät zu Krediten. Er nimmt die Angaben auf, prüft die Sicherheiten, errechnet den Kreditzins, wartet auf die Freigabe und weist den Kreditbetrag an. Der Kreditvergabeprozess besteht aus vielen manuellen Tätigkeiten und wird nur streckenweise von Systemen unterstützt. Diese Kreditvergabe ist sowohl zeit- als auch kostenintensiv und die Arbeitszeit des Bankers ist limitiert. Eine Kreditplattform dagegen verarbeitet beliebig viele Anträge, reagiert ohne Verzögerung, arbeitet rund um die Uhr und das bei geringsten Grenzkosten. Die Plattform ist wesentlich produktiver.
Die Eliminierung der Arbeit ist eine Wahrheit, die niemand ausspricht. Sie ist der Auslöser für die drei folgenden Killerargumente.
Für die Umsetzung der digitalen
Transformation gibt es drei Nutzenargumente: die Reduktion der Kosten, die
Steigerung der Produktivität und die Erhöhung des Customer Values.
Alle drei Punkte sind in ihrer Wirkung und insbesondere in ihrer Summe so gewichtig, dass analoge Unternehmen diese nicht ausgleichen können.
Die Digitalisierung verändert die Kostenstrukturen der Unternehmen. Die Fixkosten steigen und die variablen Kosten sinken. Die Umsetzung einer digitalen Strategie erfordert hohe Investitionen in den Aufbau der Plattform, während die Transaktionskosten auf ein Minimum reduziert werden.
Hagen Krämer [4] zeigt in seinem Arbeitspapier auf, wie sich die Kosten eines industriellen
Produkts gegenüber einem digitalen Produkt verändern.
Der Aufbau der Plattform führt dazu, dass die erste Transaktion die höchsten Kosten verursacht und für jede weitere Transaktion die Grenzkosten bei einem Minimum konstant bleiben. Dieses Phänomen heißt First Copy Cost. Im Gegensatz zu den industriellen Kosten fallen die Produktkosten mit der Ausbringungsmenge stetig. Es bestehen absolute Größenkostenersparnisse ohne die bekannten langfristigen Durchschnittskosten (LRAC).
Die Reduktion der Kosten richtet sich maßgeblich nach dem möglichen Digitalisierungsgrad des Geschäftsmodells. Ist sowohl das Produkt als auch der Vertriebskanal rein digital, kann von einer drastischen Kostenreduktion ausgegangen werden. Bei Produkten, die auf einer Plattform gehandelt werden und in einer physischen Auftragserfüllung (Produktion, Lieferung oder Dienstleistung) münden, ist prinzipiell von einer graduellen Kostenreduktion auszugehen.
Generell bieten die drastische und die graduelle Kostensenkung Unternehmen die Möglichkeit, massiv über den Preis zu agieren oder die eigenen Gewinne auszuweiten.
Die Produktivität beschreibt das Verhältnis der Ausbringungsmenge zu den Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital und Material). Mit der Digitalisierung verändern sich die drei Faktoren und steigern im Ergebnis die Produktivität.
Das folgende Geschäftsmodell bildet den Effekt der Produktivität besonders deutlich ab: Musik wurde früher auf Tonträgern verkauft. Die Tonträger wurden produziert, an die Händler verteilt und einzeln stationär verkauft. Heute ist Musik ein digitales Produkt, welches zum Download oder via Streamingdienst angeboten wird.
Die Produktivität zeigt einen dramatischen Sprung. Die Ausbringungsmenge ist theoretisch unbegrenzt, denn das Produkt kann beliebig oft kopiert werden. Die beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Material gehen gegen null. Das für den Aufbau der Plattform eingesetzte Kapital ist wahrscheinlich geringer als das für den Aufbau einer Tonträgerproduktion samt stationärem Vertriebskanal. Die Digitalisierung hat die Musikbranche revolutioniert.
Die Steigerung der Produktivität ist ein bemerkenswertes Killerargument, welches direkt mit der Reduktion der Kosten korreliert. Das disruptive Szenario aus der Musikindustrie stellt inzwischen einen Flächenbrand dar. Nahezu alle Branchen, Handel, Banken, Touristik und selbst das Kino an der Ecke, spüren die Verschiebungen in den Märkten. Die Produktivität macht einen Sprung.
Einen Mehrwert für den Kunden zu schaffen, ist schon immer das Ziel der Produktstrategen gewesen. Der Begriff Customer Value beschreibt das vorab definierte Werteversprechen an den Kunden. Die dazugehörige Aussage bezieht sich auf das Produkt oder die Dienstleistung sowie den gesamten Kundenlebenszyklus (Marketing, Vertrieb, Auftrag und Service). Mit der gezielten Ausgestaltung des Customer Value können Anreize geschaffen werden, neue Kunden zu gewinnen und an die Plattform zu binden.
Es gibt bereits zahlreiche Managementtheorien für die Gestaltung des Customer Value. Nach R. Ray Wang impliziert der Begriff „Customer Value“ nicht die Vermittlung eines Versprechens in der Kommunikation, sondern vielmehr die konsequente Erfüllung. „ We're moving from selling products to keeping brand promises. “[5]
Beim Customer Value Proposition nach der Theorie von Alexander Osterwalder [6] geht es darum, für ein bestimmtes Kundensegment die Painpoints der Kundenbeziehungen zu eliminieren oder aber einen zusätzlichen Gewinn hinzuzufügen. W. Chan Kim [7] sieht auch in der Verschmelzung von Angeboten ein enormes Potenzial. Er skizziert Cirque du Soleil als eine Synthese aus Zirkus, Artistik sowie Theater und beschreibt es als ein neues Format im Entertainment.
Der Customer Value ist ein wichtiges Nutzenargument, welches nur schwer monetär darstellbar ist. Die systematische Erhöhung der erbrachten Leistung ist für sich allein gesehen schon ein Differenzierungsmerkmal. In Verbindung mit einer gezielten Preisreduktion öffnet sich die Wettbewerbsschere. Der Kunde bekommt mehr und zahlt weniger.
Die drei Killerargumente haben den Nutzen der Digitalisierung aufgezeigt. Nun geht es darum, die beiden Bedingungen für den Erfolg zu erfüllen. Die Digitalisierung braucht eine Beschleunigung oder besser eine doppelte Beschleunigung des Geschäftsmodells.
Stellen wir uns den Landwirt vor, der in einen Mähdrescher investiert hat: Im Folgeschritt ist es unerlässlich, die Landarbeiter freizusetzen und zusätzliche Felder zu akquirieren. Diese beiden Bedingungen sind zwingend, um den gewünschten Produktivitätssprung zu erzielen.
Für die erste Bedingung ist es unvermeidlich, dem Gesetz der Digitalisierung zu folgen: Algorithmen ersetzen Mitarbeiter. Die Investition zieht die Eliminierung der operativen Arbeit nach sich, denn nur so lässt sich eine Reduktion der Kosten realisieren.
Die zweite Bedingung für den
Erfolg ist die Explosion des Transaktionsvolumens. Die Plattform liefert eine
beliebige Ausbringungsmenge bei nahezu keinen Grenzkosten. Mit diesen Vorteilen
ist es unerlässlich, schnell zu wachsen, um die mögliche Ausbringungsmenge wieder
den Produktionsfaktoren anzupassen.
Das Transaktionsvolumen ist der Beschleuniger für digitale Geschäftsmodelle. Plattformen sind hungrige Monster, die permanent gefüttert werden müssen. Sie dulden keinen Stillstand, denn jede Transaktion und jeder Kunde steigert nochmals die Produktivität und senkt zusätzlich die Grenzkosten. Dieser Hebel braucht ein besonders großes Drehmoment, denn ein weiteres Gesetz der Digitalisierung lautet: Beschleunigung schafft Dominanz.
Mit einem doppelten Beschleuniger wird das Wachstum zusätzlich befeuert. Prof. Dr. Goutam Challagalla erklärt diesen Effekt am Beispiel von Uber: Eine weitaus höhere Anzahl von eingesetzten Fahrern bringt eine bessere geografische Abdeckung, was zu kürzeren Wartezeiten führt. Kurze Wartezeiten sind ein signifikanter Customer Value und steigern wiederum die Nachfrage des Kunden. Mehr Nachfrage bedeutet mehr Fahrten, weniger Stillstand und geringere Preise. Der doppelte Beschleunigereffekt entsteht durch die Erhöhung des Customer Value und wirkt wie ein Schwungrad (Flywheel).
Egal ob einfache oder doppelte Beschleunigung, es gibt viele strategische Einzelmaßnahmen, die das digitale Wachstum forcieren können. Es ist zunächst wichtig umzudenken, die Restriktionen der analogen Arbeitsweise abzulegen und sich den neuen Parametern des Erfolges anzupassen.
Kommen wir zurück zu der in der Einleitung gestellten Frage: Warum soll ein Unternehmer sein erfolgreiches Geschäftsmodell transformieren? Die Antwort ist einfach: Die Digitalisierung markiert einen epochalen Produktivitätssprung.
Die Digitalisierung besitzt die Voraussetzungen für die nächste industrielle Revolution. Ein traditionelles Unternehmen mit einer analogen Arbeitsweise kann einen so großen Produktivitätssprung nicht durch streckenweise Rationalisierung ausgleichen. Früher oder später ist jedes Unternehmen gezwungen, sich dem neuen Wettbewerb zu stellen.
An dieser Stelle verweisen Unternehmer gerne darauf, dass sie die Digitalisierung bereits in Angriff nehmen. Doch wenn wir das Vorhaben mit den Nutzenargumenten und Bedingungen der Digitalisierung vergleichen, zeigt sich, dass diese Unternehmen genau das Gegenteil tun.
Sie investieren in Technologien, wie zum Beispiel einen Onlineshop. Die Intention dahinter ist es, neue Verkaufschancen zu generieren. Doch am Ende produzieren sie nur mehr Arbeit, bei steigenden Kosten und einer gleichbleibenden Ausbringungsmenge. Das digitale Experiment scheitert, weil die Gesetze der Digitalisierung ignoriert werden.
Dieser Artikel stellt einen ersten Schritt für ein besseres Verständnis dar. Er zeigt den Auslöser, die drei Nutzenargumente und die Bedingungen für den Erfolg. Unternehmer können mit diesen Einblicken die wirtschaftlichen Zusammenhänge erkennen, ihre Strategie planen und wichtige Entscheidungen treffen. Sie können die digitale Transformation sicher gestalten.
Es wird definitiv notwendig sein, das Vorhaben methodisch anzugehen, aber auch die Kernprozesse und die IT-Infrastruktur neu auszurichten.
Das digitale Geschäftsmodell wird zunächst parallel zur analogen Organisation etabliert. Ist das neue Geschäftsmodell tragfähig, wird begonnen, das gesamte Geschäft sukzessive auf die Plattform umzuleiten. Gleichzeitig werden die Strukturen der analogen Organisation schrittweise reduziert. Die digitale Transformation ist ein mittelfristiger Prozess, der einmal initiiert, schnell und konsequent vollzogen werden will.
[1] Rifkin , J. - Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft.
[2] Rifkin , J. - Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft.
[3] Bauriedel , S. - Die fünf Gesetze der Digitalisierung.
[4] Krämer , H. - Digitalisierung, Monopolbildung und wirtschaftliche Ungleichheit. S. 48.
[5] Wang, R.R. - Disrupting Digital Business. S. 8.
[6] Osterwalder, A., Y. Pigneur, G. Bernarda und A. Smith. - Value Proposition Design.
[7]
Kim, W.C. und R. Mauborgne. - Blue Ocean Strategy.